Wölckernstraße
Dass ich mich heute mit Bülent Bayraktar treffe, ist kein Zufall. Bülent ist Experte für Hotelmarketing und Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in der Metropolregion Nürnberg e.V. Bereits im vergangenen Jahr habe ich seinen Post zu Nürnbergs 971. Geburtstag gesehen und seither nicht vergessen. In einem Interviewausschnitt sagte er, dass sein Nürnberg anders aussieht als das von einem Deutschen. Und sein Nürnberg, das möchte ich gern besser kennenlernen. Also habe ich Bülent geschrieben und er hat sofort den Vorschlag gemacht, dass wir seine Stadtführung „Als Tante Emma ging und Onkel Ali kam“ machen könnten. Ich habe sofort ja gesagt, ich bin begeistert, ich freue mich und wir treffen uns in der Wölckernstraße vor einer großen Apotheke.
Viel Wissen über Migration steht am Anfang der Tour
Zunächst kommen wir überhaupt nicht vom Fleck, weil Bülent ganz viel Wissen hat über die Migrationsgeschichte in Nürnberg, über die unterschiedlichen Ethnien, über die Einladungen an die Gastarbeiter. Wobei der Begriff Gastarbeiter natürlich zu hinterfragen ist, denn wie Bülent und viele andere auch sagen, Gäste lässt man nicht arbeiten. Das alles ist hochinteressant und gewährt mir enorm viele Einblicke. Bülents Vater beispielsweise kam nach Nürnberg, hat von hier aus Arbeitseinsätze beim Bau des Olympiastadions in München gehabt und dort Bäume gepflanzt. Bülent selber kam im Rahmen der Familienzusammenführung im Alter von fünf Monaten nach Nürnberg. Er ging auf eine Grundschule, in der fast alle Unterrichtsfächer auf türkisch abgehalten wurden. Denn der Plan der Familien war, hier Geld zu verdienen und dann zurückzukehren in die Heimat, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Das hat bei Bülents Eltern, wie bei vielen anderen, nicht geklappt. Die Familie lebt nach wir vor in Nürnberg. Besonders die älteren Menschen haben die Türkei noch immer im Herzen. Allerdings, so erläutert Bülent, sie haben die Türkei im Herzen, die sie vor mehreren Jahrzehnten verlassen haben. Die Türkei von heute sehe oft schon ganz anders aus. Die Städte sind ähnlich anonym wie hier bei uns. Das Leben hat sich verändert, ist digitalisiert worden wie überall. Die Heimat ist nicht mehr das, was die Menschen in Erinnerung haben. Das würde sicherlich eine Rückkehr erschweren. Viel schwerer wiegt aber, dass die Familien, die Kinder und die Enkel hier leben. Die Kinder, der Menschen, die damals herkamen, sind hier aufgewachsen, die Enkel wurden hier geboren und leben hier. Und bei ihnen möchte die ältere Generation natürlich bleiben.
Die Hebelwirkung
In der Südstadt um die Wölckernstraße herum haben sich viele Menschen aus der Türkei angesiedelt. Aber auch Menschen aus anderen Ländern, wie aus Griechenland zum Beispiel. Denn in der Südstadt waren Unternehmen wie MAN und Siemens ansässig und in der Nähe gab es günstigen Wohnraum. Teilweise wurden auch von den großen Arbeitgebern Siedlungen errichtet. Die Menschen aus der Ferne brauchten bezahlbaren Wohnraum. Sie verdienten nicht so viel Geld, dass sie sich das Auto leisten konnten, mit dem man vom Stadtrand in die Stadt hineinfährt zum Arbeiten. Daher waren preiswerte Wohnungen in der Nähe der Arbeitsplätze sehr gefragt. Interessant ist die Hebelwirkung, die Bülent mir dann erklärt. Dadurch, dass die zugezogenen Menschen einfachere Arbeiten verrichteten, bekamen die Leute, meist Deutsche, die vorher diese Arbeit verrichteten, bessere und besser bezahlte Jobs. Das hatte zur Folge, dass sie sich ein Auto leisten und am Stadtrand im Grünen wohnen konnten. Sie verließen die Südstadt. wo sich dann die sogenannten Gastarbeiter ansiedeln. Ich finde, das ist eine hochinteressante Entwicklung. Diese Zusammenhänge habe ich in der Form bislang nicht wahrgenommen.
Jetzt geht es los durch die Wölckernstraße
Das Wetter an diesem Tag ist wirklich ungemütlich. Es ist böig, es regnet immer wieder, aber wir lassen uns nicht abhalten und starten zu unserer Tour! Ein Stückchen weiter treffen wir Sinan Karaköse, der hier in der Wölckernstraße eine Fahrschule betreibt. Zum Glück gibt es im Eingang eine kleine Überdachung, sodass wir trocken stehen, als der nächste Regenguss kommt. Der ist nämlich ganz schön heftig! Auch hier erfahre ich wieder eine ganze Menge über die Ankunft in dem neuen Land. Sinan Karaköse kam 1970 nach Deutschland, als kleiner Steppke von fünf Jahren, und lebte dann zunächst in Stein, wo er sich wunderbar mit den gleichaltrigen deutschen Jungs anfreundete, obwohl er die Sprache nicht sprach. Die Kinder verstanden sich halt, gingen aufeinander zu. Sinan hat gute Erinnerungen an diese Zeit. In der Südstadt hat er an verschiedenen Stellen gewohnt und kennt die Wölckernstraße wie seine Westentasche.
Mit dem Behördenschreiben ins Reisebüro
Wir stehen vor dem Eingang seiner Fahrschule und blicken über die Straße auf ein Reisebüro. Dann erfahre ich einiges über die Geschäftsfelder der türkischen Reisebüros. Dorthin wandten sich nämlich die Menschen, die zum Beispiel mit Formularen nicht zurecht kamen, und nutzten die Kompetenzen der Reisebüros in der Form, wie man früher einen mittelalterlichen Schreiber genutzt hat. Man brachte seine Behördenschreiben dorthin, ließ sich bei deren Übersetzungen und dem Ausfüllen der Formulare helfen. So entwickelten die Reisebüros damals ein zweites Standbein. Was für eine wunderbare Flexibilität, genau in der Marktlücke eine Dienstleistung anzubieten, wo sie gebraucht wurde. Das Reisebüro gegenüber der Fahrschule wird übrigens schon längst nicht mehr vom Gründer betrieben, sondern wurde an einen Nachfolger übergeben. Aber es ist immer noch an seinem angestammten Platz.
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Der erste türkische Barbershop
Wir wechseln die Straßenseite um zu dem ersten türkischen Friseur der Südstadt zu gelangen. Es ist ein ganz kleines Lädchen, das Schaufenster fällt durch türkisfarbene und weiße Beschriftung auf, wirbt mit klimatisierten Räumen. Das ist an diesem Tag nicht wirklich gefragt, kommt aber im Sommer bestimmt gut an. Wir gehen hinein und unterhalten uns ein wenig über die doch in der Türkei deutlich ausgeprägtere Kultur der Haarpflege, wie wir sie ja inzwischen auch aus Barbershops anderer Ethnien kennen. Bülent erklärt mir das Ausbrennen der Haare in den Ohren oder das Auszupfen von Gesichtshaaren mit dem aufgedrehten Faden. Es ist eine nette Atmosphäre hier, sicherlich ist auch dieser Friseursalon, wie alle Salons auf der ganzen Welt, ein Ort, wo Gerüchte, Geschichten, Nachrichten ausgetauscht werden.
Türkisch Kolonya
Was ich sehr schön finde, es gibt hier zitronenfrisch duftendes Türkisch Kolonya! Es enthält achtzig Prozent Alkohol, mit dem man das Gesicht abtupft, das man sich aber auch über die Hände geben kann. Das ist sehr angenehm, duftet herrlich sommerlich und erfrischt ungemein. Gerade in Zeiten der Pandemie ist es sicherlich nicht verkehrt, es zu benutzen. Interessant finde ich es auch, dass Bülent mir erzählt, dass man, wenn man zu einer türkischen Familie zu Besuch kommt, ganz traditionell auch ein bisschen von diesem erfrischenden Wasser auf die Hand gespritzt bekommt, so dass man sich wohl fühlt und einen schönen Akt der Begrüßung genießt. Was für eine schöne Geste. Wer weiß, vielleicht führe ich das bei mir zuhause auch ein?
Die Wölckernstraße, ehemalige Flaniermeile
Im Lauf unserer Wanderung durch die Wölckernstraße sehen wir auch geschlossene, leerstehende Geschäfte. Mir fallen zwei kleinere auf und dazu der große Wienerwald, der wohl schon zwanzig Jahre leer steht. Bülent betont, dass hier keine Verdrängung deutscher Geschäfte stattfindet, sondern das einfach die Lücken genutzt werden, die entstehen. Das ist natürlich auch für die Südstadt von Vorteil, denn Leerstand schadet jedem Stadtteil. Leerstand ist eine traurige Geschichte, stört die Atmosphäre wie das wirtschaftliche Leben. Es ist sehr schön anzusehen, was es jetzt an tollen Geschäften dort gibt. Nicht nur türkische oder syrische oder Geschäfte anderer Ethnien, auch deutsche Geschäfte gibt es nach wie vor. Bülent betont, und ich denke wirklich zu Recht, dass im Angesicht der Konkurrenz von großen Onlineanbietern gerade die Geschäfte gute Erfolgschancen haben, die einen zusätzlichen Service anbieten. Hier kann man sicherlich an Musik Klier denken, der das Gebäude übernommen hat, in dem vor Jahrzehnten das Bauhaus eröffnete – der erste Baumarkt der Südstadt. Die Außenfassade soll jetzt komplett begrünt werden, man sieht auch schon, wie es anfängt zu sprießen. Diese tolle grüne Nutzung steht der Straße bestimmt sehr gut zu Gesicht.
Wir wechseln immer wieder die Straßenseite und spüren dabei, wie stark befahren die Wölckernstraße ist. Schon als wir mit Sinan Karaköse vor der Fahrschule standen, habe ich mir erklären lassen, dass die Straße früher durchaus eine Flaniermeile war. Es gab hochwertige Geschäfte in der Südstadt, man traf schick angezogene Leute, die hier entlang spazierten und einkauften. Man sieht es den Häusern zum Teil noch heute an, dass sie in der Gründerzeit, also lange vor dem Krieg, sehr liebevoll ausgestattet und hochwertig erbaut wurden. Inzwischen ist die Bebauung natürlich gemischt mit den nicht ganz so attraktiven Nachkriegsbauten. Dennoch man kann den Flair von damals noch ein bisschen nachfühlen.
Vielfalt und Tradition
Wir kommen in ein Haushaltswarengeschäft, wo es viele Gegenstände gibt, die es in den meisten Kaufhäusern der City nicht gibt, die aber zur türkischen Kultur gehören, sei es ein Frühstücksgeschirr oder Zubehör zur Teezubereitung. Wir kommen herein, man kennt sich, Bülent begrüßt den Inhaber, plauscht ein bisschen über die Geschäfte und ich sehe einige Dinge, die ich nicht kannte. Wir verabschieden uns und gehen weiter. In der Wölckernstraße 41 ist Trachten Hülf zuhause, ein langjähriges Trachtenfachgeschäft. Wir treten ein. Ich freue mich erst einmal, dass es warm und trocken ist. Das Wetter ist heute wirklich gewöhnungsbedürftig. Schon begrüßt uns Inge Endreß, die Chefin ist selbst da. Wir haben eine nette Unterhaltung, es geht um Familie, Corona, um das Geschäft und um Kundenwünsche. Mir fällt natürlich sofort auf, dass es in der Vitrine kleine genähte rosa Häuschen gibt. Inge Endreß zeigt sie mir ganz freundlich diese Lichthäuschen und dann schauen wir uns auch die ersten Masken an, die zu Beginn der Pandemie von Inge Endreß – genau wie von vielen anderen Schneiderinnen und Schneidern – aus schönen Stoffen gefertigt wurden. Davon sind auch noch welche da und Inge Endreß schenkt Bülent eine rot-weiße Maske. Es ist absolut nachvollziehbar, dass er das ganz ganz toll findet, denn schließlich ist er ein großer Fan vom Club und hatte sich 2020 sogar für den Aufsichtsrat beworben. Wir werfen noch einen Blick auf Trachtenmoden, winzige Dirndl für ganz kleine Mädchen, natürlich auch Dirndl für Damen, Lodenjanker für Damen und Herren. Hier fehlt nichts, was das trachtenverliebte Herz ersehenen könnte. Dann verlassen wir den Laden wieder und wechseln wieder auf die andere Straßenseite der Wölckernstraße.
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Anatolische Köstlichkeiten
Dann kommen wir in ein für mich besonders reizvolles Geschäft. Es heißt Anatolia Gurme. Dort gibt es regionale anatolische Köstlichkeiten. Ich muss auch gleich ein bisschen einkaufen: eine Marmelade aus getrockneten Feigen und Walnüssen, eine aus schwarzen Maulbeeren und dann habe ich noch Tarhana gekauft. Tarhana das ist eine Mischung aus Joghurt, Mehl und Gemüse, die es nicht nur in der Türkei gibt. Ich habe mir inzwischen angelesen, dass Tarhana wohl auch von nomadisch lebenden Volksgruppen gerne mitgeführt wurde. Die Zutaten sind getrocknet, das spart Platz und man kann daraus ganz schnell leckere Sachen zubereiten, habe ich mir sagen lassen. Ich werde das ausprobieren. Außerdem habe ich noch Nudeln gekauft, in denen Karotten verarbeitet wurden. Dann bekam ich noch leckeres Paprikapulver geschenkt. Die Beratung war sehr aufmerksam. Ich hoffe sehr, dass ich hier mal wieder vorbei schauen und mehr der verlockenden Köstlichkeiten einkaufen kann.
Traumhafte Hochzeitstorten und ein wunderschöner türkischer Brauch
Als nächstes erreichen wir die Aydin-Bäckerei. Ein Traum! Man kommt hinein, man sieht sofort wunderbare Torten, fantastisch dekoriert! Auf der linken Seite stehen die Tische eines kleinen Cafés. Rechts locken jede Menge wunderbarer Genüsse, süße Kuchen, pikante Snacks, Brote, Pide, Baklava. Es ist ein Traum! Ich erfahre, dass eine besondere Spezialität des Hauses die Hochzeitstorten sind, die hier im ganzen Viertel geliefert werden. Die sind fünf-, sechs- oder siebenstöckig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie diese Köstlichkeiten aussehen, denn schon die einstöckigen Torten in der Nähe des Eingangs sehen paradiesisch aus und sind vermutlich auch sehr lecker. Allerdings habe ich an diesem Tage einen Fastentag mit fünfhundert Kalorien und muss mich einfach beherrschen. Vielleicht ist es auch ganz gut so, das hätte sonst kalorienreich enden können. Ich erfahre von Bülent, dass es in der Türkei die Tradition gibt, dass Süßigkeiten wie Baklava – in luxuriöse Schachteln verpackt – verschenkt werden, wenn ein Mann um die Hand einer Frau anhält. Die Eltern bekommen die Süßigkeiten. Also ich finde das eine ganz ganz wunderbare Tradition. Im Hintergrund sind viele dekorative Schachteln ausgestellt, in die man süße Schätze einpacken kann.
Unverpacktes in der Wölckernstraße
Dann erreichen wir den Laden eines syrischen Betreibers. Es ist ein Lebensmittelladen, von dem selbst Bülent dachte, dass er erst vor Kurzem eröffnet worden sei. Doch auch dieser Laden ist hier schon seit fünf Jahren ansässig. Man sieht schon sehr große Ähnlichkeiten mit dem Warenangebot der türkischen Lebensmittelgeschäfte. Aber es gibt auch Unterschiede, die mir nicht auffallen, die Bülent mir aber erklärt. Was ich sehr hübsch finde, ist – hinter dem Tresen – der Schrank mit Schubfächern, durch deren Glasscheiben man die unverpackten Lebensmittel sieht, die hier angeboten werden. Das sieht hübsch aus. Daneben steht ein großer gläserner Spender mit einem Zapfhahn, der Tahin, also Sesampaste enthält. Einen kleinen feinen Laden mit teilweise unverpackten Lebensmitteln haben wir da entdeckt.
Die Nummer 34
Nun wenden wir uns zurück, gehen wieder in Richtung unseres Treffpunkts. Unterwegs kommen wir noch an einer kleinen Boutique vorbei: Vor der Tür sprechen wir mit dem Inhaberehepaar, das uns freundlich erzählt, dass sie ihre Ware in der Türkei selbst produzieren. Sie erklären uns, wie ihr Label heißt. Es wird COLAC geschrieben und so heißt das Ehepaar auch mit Nachnamen. Der Laden selbst heißt Lust Nr. 34, befindet sich in der Wölckernstraße Nummer 34 und zudem ist die 34 auch die Nummer der Provinz Istanbul. Wir verabschieden uns nach einem netten Plausch und verabschieden uns an unserem Treffpunkt. Nach dem Regentag bin ich jetzt durchgefroren. Aber diese Texthaus trifft Nürnberg-Runde war so informativ und vielfältig, wir haben lauter freundliche Menschen getroffen, uns interessante Geschäfte angeguckt und ich habe viel erfahren über das Leben der türkischen Gemeinde in der Südstadt, über Migration insgesamt, dass ich hier gar nicht alles wiedergeben kann. Bülent weiß so viel zu berichten, dass ich ganz fasziniert bin. Dankeschön dafür, lieber Bülent!
Ok, das Wetter hätte besser sein können. Aber dennoch war mein 15. Nachmittag mit Texthaus trifft Nürnberg wieder wunderschön, informativ und spannend. Ich freue mich auf weitere spannende Stadtteile und Nachmittage. Wer mag mir seinen Stadtteil zeigen?